„Dieses Wissen steht in keinem Buch“

Prof. Dr. Robert Arlinghaus

(© Stefan Klenke)

Prof. Robert Arlinghaus ist Professor für Integratives Fischereimanagement an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet eine Forschungsgruppe für nachhaltige Angelfischerei aus sozial-ökologischer Perspektive am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). In vielen seiner Forschungsprojekte arbeiten sein Team und er mit außeruniversitären Expert:innen aus der Praxis zusammen und profitieren als Wissenschaftler:innen von ihren Kenntnissen und Perspektiven.

Herr Arlinghaus, Sie arbeiten häufig mit gesellschaftlichen Akteuren – etwa Angelvereinen oder Fischerei- und Naturschutzverbänden – gemeinsam an wissenschaftlichen Fragen. Wie gelingt es Ihnen, diese Akteure gut in Ihre Arbeit einzubeziehen?

Das funktioniert gut, wenn man Themen aufwirft oder gemeinsam entwickelt, die für die Akteure relevant sind. Auf unserem Forschungsgebiet haben wir dafür eine gute Ausgangslage. Denn Angelvereine und Fischereiverbände haben Nutzungsrechte, aber gleichzeitig auch eine Bewirtschaftungspflicht für ihre Angelgewässer. Damit haben sie großes Interesse daran, deren Bewirtschaftung zu verbessern und nachhaltig zu entwickeln. Viele unserer Projekte greifen da ein und thematisieren das. Zweitens ist es auch eine Haltungsfrage. In der Wissenschaft sind wir nicht zwangsläufig schlauer als die Leute aus der Praxis, wir nutzen lediglich andere Methoden des Erkenntnisgewinnens. Die Haltung, mit der wir auf die Praxis zugehen, sollte sein: Wir wollen gemeinsam, auf Augenhöhe etwas Neues lernen. Dass ich selbst seit früher Kindheit angle und die Probleme und Bedürfnisse kenne, macht es vielleicht auch ein Stück weit leichter, mit den Menschen zusammenzuarbeiten. Inzwischen habe ich ein über viele Jahre aufgebautes Vertrauensverhältnis. Und diese Vertrauensbasis ist ebenfalls sehr entscheidend.

Wie sieht die Zusammenarbeit ganz konkret aus?

In der Regel führen wir gemeinsame Feldexperimente an den Angelgewässern durch. Um diese vorzubereiten, sind Gespräche von Angesicht zu Angesicht am wichtigsten. Hinfahren zum Angelverein, Kaffee trinken, sich kennenlernen, reden und die gegenseitigen Erwartungen und Ziele austauschen – das sind die ersten Schritte. Dann geht man zu Vereinsveranstaltungen und stellt die Projekte vor. Im nächsten Schritt arbeiten wir mit Workshops. Dort sind dann schon wirklich interessierte Personen – Vorstände, diejenigen, die Entscheidungen treffen und die Gewässer pflegen. Es sind immer mehrere Veranstaltungen, die man dafür einplanen muss, um die Menschen gut mitzunehmen. Sie decken alle wichtigen Phasen des gesamten Projekts ab, das in der Regel mehrere Jahre andauert: Problemdefinition und gegenseitiges Verständnisschaffen, Projektplanung, Zwischenevaluation, Ergebnisdiskussion und -bewertung. Die Partnerinnen und Partner aus der Praxis sind über mehrere Jahre an den Projekten beteiligt und übernehmen hier auch tragende Rollen bei der Durchführung der Experimente im Freiland.

Was ist bei dieser Form der Forschung besonders gewinnbringend, was besonders herausfordernd?

Zunächst einmal: Ohne Angelvereine als Gewässerpächter könnten wir die Experimente gar nicht durchführen, denn die Praxispartner stellen die Gewässer zur Verfügung. Hinzu kommt: Wir lernen in solchen Projekten extrem viel inhaltlich von den Praktikern. Menschen, die vor Ort seit Jahrzehnten angeln und die Gewässer bewirtschaften, wissen etwa, wo die Fische hinwandern zum Laichen, dass es unterschiedliche Fischökotypen gib, die verschiedene Gewässerbereiche besiedeln oder was sich in den letzten Jahrzehnten in den Populationen und Gewässern verändert hat. Dieses Wissen steht in keinem Buch, ist für uns als Forschende aber sehr wertvoll. Eine Herausforderung ist, dass wir als Forschende immer neutral bleiben müssen. Bei unterschiedlichen Interessengruppen – etwa der Fischerei, der Angelei und dem Naturschutz – darf sich das Forschungsteam nicht instrumentalisieren lassen, sich nicht auf eine Seite stellen und in Workshops auch nicht an Abstimmungen zu zukünftigen Maßnahmen teilnehmen. Bei schwierigen Konstellationen arbeiten wir daher immer mit einer externen Moderation. Man muss viel reden und gut zuhören können. Das alles ist sehr zeit- und personalaufwendig. Beteiligungsprozesse kann man nicht starten, wenn man unterfinanziert ist und die Kompetenzen für eine Arbeit mit Menschen nicht mitbringt.

"Wir bekommen viele wertvolle Hinweise, wie unsere Forschungsfragen und auch Methoden so angepasst werden können, dass sie vor Ort sinnvoll und machbar sind. Das ist enorm bereichernd."

Der Aufwand ist hoch, aber dennoch engagieren Sie sich gerade für diese partizipativen Forschungsformate sehr leidenschaftlich. Warum?

Das ist auch eine persönliche Motivation. Mir ist es wichtig, praxisrelevantes Wissen an die Menschen zu bringen. Es geht nicht darum, nur eine Fachpublikation aus so einem Projekt zu generieren. Das ist natürlich auch schön und wichtig, aber damit sehe ich meinen Arbeitsauftrag nicht als erfüllt an. Ich betreibe eine anwendungsorientierte Forschung. Und die muss auch dort ankommen, wo sie gebraucht wird. Wenn wir gemeinsam mit der Praxis forschen und die Leute beispielsweise am eigenen Gewässer sehen, wie sich verschiedene Bewirtschaftungsmaßnahmen auswirken, wird Forschung ganz anders akzeptiert. Auch das Verständnis für die Art und Weise des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns steigt erheblich.

Wie beeinflusst dieser partizipative Ansatz in Ihrer Forschung Ihre Arbeit?

Wir können zum Beispiel Forschungsfragen viel besser konkretisieren. Wenn ich in die Praxis gehe, muss ich kommunikativ vermitteln können, was die Forschungsziele sind, wie man methodisch warum vorgeht und was wir herausgefunden haben. Ich muss das alles auf den Punkt bringen können, ohne wissenschaftlichen Jargon. Das lernt man, wenn man kurze Vorträge vor einem praxisnahen Publikum halten muss oder pointiert in sozialen Medien über Ergebnisse berichtet. Im Gespräch zeigt sich auch oft, dass unsere sehr komplexen Forschungsfragen manchmal für die Praxis gar nicht zielführend sind, sondern dass dort gerade andere Fragen wichtiger sind. Wir bekommen viele wertvolle Hinweise, wie unsere Forschungsfragen und auch Methoden so angepasst werden können, dass sie vor Ort sinnvoll und machbar sind. Das ist enorm bereichernd. Gute Kommunikation und die Fähigkeit, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und Perspektiven ständig neu zu justieren, sind in solchen Projekten extrem wichtig.

An welchen Stellen kommt der gegenseitige Wissensaustausch an seine Grenzen oder führt sogar zu Konflikten?

Manchmal braucht man schon ein dickes Fell und gutes Konfliktmanagement – besonders, wenn es um Bewirtschaftungsempfehlungen geht, die nie wertfrei sind und die die Interessen von Praxisakteuren berühren. Hier geht es auch um existenzielle Fragen. Wird beispielsweise als Folge neuer Bewirtschaftungsempfehlungen eine Befischung weiter möglich sein? Wer oder was ist „schuld“ an den Fischrückgängen? Solche Themen werden dann häufig von der Presse oder Verbänden aufgegriffen oder in den Sozialen Medien kommentiert. Dabei kann es passieren, dass Dinge verdreht und anders dargestellt werden, als sie sind. Manchmal können sich einige Gruppen benachteiligt fühlen und sind dann nicht mehr bereit, mit uns zusammenzuarbeiten. Es ist auch nicht jedes Forschungsthema für so einen partizipativen Ansatz geeignet. Um etwa die genetische Ausdifferenzierung von Fischpopulationen in einem Gewässer zu untersuchen, braucht man nicht zwangsläufig eine Zusammenarbeit mit der Praxis. Auch politisch stark aufgeladene Themen oder Forschungsfragen von großer internationaler Bedeutung, die räumlich nicht eingegrenzt sind, sind nicht geeignet. So etwas kann schnell aus dem Ruder laufen.

Wenn Sie ein Beispiel für eine besonders gelungene Kooperation aus Ihrer Forschungsarbeit nennen müssten: Welche wäre das?

Unser Baggersee-Projekt war extrem erfolgreich. Hier haben wir gemeinsam mit Dutzenden Angelvereinen untersucht, wie künstlich geschaffene und anglerisch genutzte Baggerseen ökologisch aufgewertet und renaturiert werden können. Wir hatten eine große Beteiligung und tolle Ergebnisse. Am Ende konnten wir zeigen, dass die biologische Vielfalt und die Fischhäufigkeit stark steigen, wenn Flachwasserzonen eingerichtet werden, die Lebensraum und Kinderstube für zahlreiche Arten sind. Das Einsetzen von Fischen hingegen versagte komplett, obwohl das die Standardmaßnahme im Fischereimanagement in Binnengewässern ist. Erst durch die Zusammenarbeit mit den Angelvereinen konnten wir so ein über viele Gewässer wiederholtes Feldexperiment überhaupt durchführen. Es war wissenschaftlich hoch produktiv, hat die Öffentlichkeit begeistert und viele Nachahmer gefunden.

Das Programm Open Humboldt Freiräume unterstützt ganz gezielt Forschende und Lehrende, die den Austausch mit der Zivilgesellschaft suchen. Wer sollte sich für das Programm unbedingt bewerben und was sollte man dafür mitbringen?

Es muss zum einen ein Thema sein, dass entweder für sehr viele Menschen oder zumindest für eine Gruppe von Menschen – in meinem Fall die Angelnden – interessant ist. Zweitens sollte es für diejenigen, die sich an dem Programm beteiligen wollen, wirklich ein Anliegen und eine Motivation sein, mit der Gesellschaft über ihre Forschung in ein Gespräch zu gehen. Man muss Interesse für die Perspektive anderer Menschen mitbringen, gut zuhören können und kreativ beim Vermitteln der Botschaften sein. Man sollte sich Gedanken über eine gute Kommunikation machen und dafür auch Zeit einplanen. Das Förderformat verschafft den Forschenden den für einen solchen Austausch notwendigen Freiraum.

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